Der erweiterte Lernbegriff

Dr. Helios Scherer, SchR, Fachbereich Fortbildung und Gemeinschaftsschulen


Im dreigliedrigen Schulsystem bedienen selektiv operierende Schulen im Einzelnen sowie bestimmte Schularten in ihrem funktionalen Selbstverständnis im Allgemeinen hauptsächlich Qualifizierungscurricula, die Schulen über Bildungspläne und andere Vorgaben verordnet und traditionell als ihre Aufgabenstellung zugeordnet werden. Als Qualifizierungscurricula bezeichnen wir

  • die einzeln definierten Fächer,
  • die erweiterten Bildungsplanvorgaben (>> Leitorientierungen usw.),
  • politisch verordnete gesellschaftliche Ziele (>> Teilhabe, > Berufsbereitschaft, …) sowie
  • zusätzliche schulische Qualifizierungskurse zur Unterstützung von fachlichem Lernen (>> Lernen-lernen, Methodencurricula, …).

I. Qualifizierungscurricula

sind mit konkreten Lerninhalten, Kompetenzzielen und Bewertungsschemata unterfüttert, die Lernbereitschaft voraussetzen und den Schülerinnen und Schülern grundsätzlich unterstellen, die entsprechenden Lernvoraussetzungen mitzubringen. 

In diesem Sinne strukturgleich angelegt, fasse ich sie als Ebene der Bildungsvorgaben zusammen und nenne sie das „Erste Curriculum“ oder „Ebene der Qualifizierungscurricula“.
Der herkömmliche Lernbegriff in Schulen ist oft auf die beschriebenen Qualifizierungsmaßnahmen samt Methodensupport beschränkt und liefert über dokumentierte Bewertungsvorgänge bei unterschiedlichen Schülerinnen und Schülern die „Vermessung der Abweichung vom erwarteten Ideal“ (>> „Notenverordnung“ / transparente Zumessung von Notenwert zu Abweichungsausmaß).


Bild 1: Das "Erste Curriculum" und wahrnehmbare Lernleistungsunterschiede bei verschiedenen Lernern. Das "Lernniveau" ist über die Menge an Kompetenzerwerb pro Zeiteinheit definiert und ist im E-Standard dem erweiterten Kompendium entsprechend höher als in M und G.


II. Lernvoraussetzungen

Die Ursachen für die herkunfts- und primär sozialisationsbedingt unterschiedlichen Lernleistungen von Schülern in den Qualifizierungscurricula sind jedoch immer wieder in fehlenden Lernvoraussetzungen zu suchen. Unter Lernvoraussetzungen verstehen wir Verwirklichungen und Persönlichkeitsmerkmale wie Selbststeuerungskräfte, die idealerweise in der Primärsozialisation erworben werden.
Sie bilden die voraussetzungsvollen Grundlagen für die komplexere Kompetenz der geistigen Auseinandersetzung und des Lernens.
Als Lernvoraussetzungen sind sechs Grundlagenfähigkeiten bekannt, die wir als das „Zweite Curriculum“ oder die „Ebene der Lernvoraussetzungen“ bezeichnen:

Wir ergänzen die sechs Grundlagen um zwei weitere Felder aus dem aktuellen wissenschaftlichen Diskurs und nehmen die dadurch entstehende Redundanz gern in Kauf:

Bild 2: Das „Zweite Curriculum“ mit den Grundlagen für geistige Arbeit und Lernprozesse.

 

Zu den acht Entwicklungsfeldern liegt jeweils ein orientierendes Handout zur Begriffsklärung, Fördermöglichkeiten und weiterführenden Links vor, das von Fachberaterteams des Staatlichen Schulamtes Lörrach erstellt wurde. Diese werden hier als Download zur Verfügung gestellt.


III. Beziehung und Tagesstruktur

Noch elementarer grundlegend für gelingendes Lernen im ersten Curriculum und Voraussetzung für Entwicklung im Zweiten, den Lernvoraussetzungen, sind verlässliche Beziehung(en) und Strukturen in der Umgebung. Den Beziehungsbegriff stellen wir in schulischen Zusammenhängen in den Dimensionen Lehr-/Lern- und Fürsorge-Beziehung dar. Das Thema Umgebungsstruktur als „aktive Umwelt“ in den Dimensionen personenunabhängig mit dem Ziel Konformität und abspracheabhängig im sozialen Kontext mit dem Ziel Loyalität.

 

Bild 3: Das „Dritte Curriculum“ mit den Voraussetzungen für gesunde soziale Entwicklung.

Bild 4: Das Gesamtmodell des Erweiterten Lernbegriffs“ samt Beispielen für Entwicklungsdefizite im II. und III. Curriculum: 
„Weiß“ >> …fehlende / noch nicht verwirklichte Fähigkeit
„Rosa“ >> ... unvorteilhafte, selbstschädigende Angewohnheit anstelle der Voraussetzung

 

Schulen, die sich zum Ziel setzen, wirkungsvoller an der bisher stabilen Schere zwischen Schülerinnen und Schülern mit ungünstigen Sozialisationsvoraussetzungen und solchen mit herkunftsbedingt guten Lernvoraussetzungen zu arbeiten, müssen akzeptieren, dass in bestimmten Fällen für einige Zeit das II. oder das III. Curriculum das erstrangig bedeutsame für einen Schüler ist.

Eine verlängerte Lernzeit / Beschulungszeit bis zum Abschluss wird in diesen Fällen nicht über Klassenwiederholungen „organisiert“, sondern eventuell über Schulmoratorien mit verlässlich betreuten Praktika oder anderen Sozialhilfemaßnahmen vor Ort.

Aus identifizierten Entwicklungsdefiziten und unvorteilhaften Angewohnheiten ergeben sich die Aufträge zu abgestimmten pädagogischen Maßnahmen in Schule und wenn möglich in Erziehungspartnerschaft mit weiteren Verantwortlichen.

Bild 5: Das Gesamtmodell des Erweiterten Lernbegriffs samt Beispielen für schulinterne Prozess-Standards und den von Arbeitsgruppen im Staatlichen Schulamt Lörrach entwickelten Unterstützungswerkzeugen. 
Entsprechend der Drei-Ebenen-Struktur im Modell des erweiterten Lernbegriffs ergeben sich Entwicklungsaufträge für schulintern implementierte Prozessmoden zur Verknüpfung der unterschiedlichen Einzelcurricula (rote Kreise).


 Handouts (Download)

  • Motivation | Timo Feigl, Ulrich Lucas, Friedrich Dietsche
  • Aufmerksamkeit | [in Arbeit]
  • Entschlusskraft |  [in Arbeit]
  • Verstehen | Viktoria Zehner, Christina Schröder
  • Ausdauer | Angelika Hahnenfeld, Ramona Luhr, Volker Schreiber
  • Angemessene Sprache | Ellen Heuschmid, Doris Jaenisch
  • Exekutive Funktionen | Iris Dreher, Christelle Ranc, Ruth Bucher, Gerold Schmidt, Gabriele Kaltenbach, Julia Zölle
  • Sozial-/emotionale Entwicklung | Volker Koch, Claudia Droste-Acocella, Matthias Brase